Politik & Missbrauch


Quelle NDR – Originaltexte kopiert- weitere Informationen und Videos auf:

Internetseite NDR Thema Missbrauch (Norddeutsche Rundfunk)

Video Missbrauch / Dokumentation

 

Opfer bekommen zu wenig Hilfe

 
Die Macht der Täter kann bei den Opfern bis ins Erwachsenenalter wirksam sein.
Kinder können oft gar nicht in Worte fassen, was ihnen angetan wird. Auch Erwachsenen fällt es schwer darüber zu sprechen, was sie als Kind erleiden mussten. Zudem verhindern Scham und das Gefühl, womöglich etwas falsch gemacht zu haben, dass sie über die Taten sprechen können. Die Täter, die mehrheitlich aus dem familiären Umfeld kommen, setzen außerdem alles daran, ihr Opfer so unter Druck zu setzen, dass es nichts verrät. Die Macht, die Täter über die Kinder erlangen, ist so stark, dass sie bei den Opfern bis ins Erwachsenenalter wirksam sein kann.
Anlaufstellen
 

Problematisch: Suche nach einem Therapieplatz


Mit der richtigen Therapie ist es prinzipiell möglich, dass Kinder irgendwann wieder ein "normales" Leben führen können, wobei Narben auf der Seele bleiben. Aber die Opfer können den Umgang mit diesen Narben erlernen. Schwerer haben es jedoch Erwachsene, die erstmals nach Jahrzehnten das Schweigen über die Gewalt, die ihnen angetan wurde, brechen wollen.
 

Das Gesundheitssystem kennt jetzt die Diagnose "sexuelle Misshandlung"


Was sich neuerdings minimal verbessert hat, ist dass die Diagnose "sexuelle Misshandlung" im Gesundheitssystem mittlerweile anerkannt ist. Zuvor hatte es eine "Anweisung" gegeben, dieses "nicht zu dokumentieren", wie Jörg Fegert von der Universitätsklinik Ulm berichtet. "Das war so geregelt, weil die Krankenkassen sonst versucht hätten, den Täter herauszufinden, um sich die Kosten wiederzuholen", erklärt der Kinder- und Jugend-Psychiater, der sich seit vielen Jahren für die Rechte Missbrauchsbetroffener einsetzt. Außerdem sollten die Patienten geschützt werden. "Es war quasi eine Verkettung von lauter widersprüchlichen Regelungen, die dazu geführt haben, dass wir in Deutschland in Bezug auf diese Themen einen völligen Blindflug im Gesundheitswesen gemacht haben."
Doch noch immer kann nicht jede Therapie über die Krankenkasse abgerechnet werden. Die Kassen bezahlen nur die, deren Wirksamkeit in Deutschland erforscht worden ist. Darüber hinaus wissen viele Psychologen noch nicht einmal mit Missbrauchsopfern umzugehen.

"Opferambulanzen" helfen kaum


Nötig wäre ein flächendeckendes Netz von Ärzten und Psychotherapeuten zur Versorgung aller Opfer von sexuellem Kindesmissbrauch. Davon ist Deutschland aber noch weit entfernt. Dieser Mangel hat auch 2013 keine Aussicht darauf bald behoben zu werden. Zwar hat der runde Tisch "Sexueller Kindesmissbrauch" eben das gefordert - geschehen ist jedoch nichts. Daran ändern auch sogenannte Opferambulanzen nichts, die bundesweit an Kliniken ausgebaut werden sollen. Betroffenen soll dort ohne lange Wartezeit geholfen werden.
Nur, in so einer "psychiatrischen Akut-Ambulanz" sind nicht die finanziellen Mittel vorhanden, die eine echte Therapie ermöglichen würden. Ingo Schäfer, Leiter der "Opferambulanz" der Universitätsklinik Hamburg, berichtet beispielsweise, dass sie die Probleme ihrer Patienten lediglich diagnostizieren und ihnen darüber hinaus nur "eine Handvoll" Gesprächssitzungen bieten könnten. Allenfalls ist bei Bedarf noch eine akute Versorgung mit Medikamenten, beispielsweise bei schweren Depressionen möglich. Alle weitergehenden Behandlungen werden von den Krankenkassen nicht bezahlt.

Bundesregierung gibt nur vor, Opfern zu helfen

Die Bundesregierung sagt, sie habe viel bewegt. Aber ernsthafte Fortschritte hat es nicht gegeben, so unser Autor Sebastian Bellwinkel.
Dutzende Experten haben seit Bekanntwerden des Ausmaßes an sexueller Gewalt gegen Kinder in Deutschland Empfehlungen erarbeitet, was verbessert werden muss. Die Liste ist lang: Bessere finanzielle Ausstattung für Fachberatungsstellen, schnellerer Zugang zu Therapien und unkomplizierte Bewilligung durch die Krankenkassen, ein Hilfsfonds in Höhe von 100 Millionen Euro zur Überbrückung der Versorgungslücken, Anerkennung von Opferleid und verlängerte Verjährungsfristen in der Strafverfolgung. Was verbirgt sich hinter den "Erfolgsnachrichten" der Bundesregierung aus den vergangenen zwei Jahren tatsächlich?
 
Verjährungsfristen
Die Verjährungsfrist für Missbrauchsfälle ist tatsächlich verlängert worden - aber nur um drei Jahre.
Nach 20 Jahren gelten sexuelle Gewalttaten als verjährt. Die Verjährungsfrist gegen Täter setzt in Starfverfahren nun später ein. Bisher begann die Verjährungsfrist mit dem 18. Lebensjahr des Opfers, nun erst ab dem 21. Lebensjahr. Das heißt, konnten Opfer bisher bis zu ihrem 38. Lebensjahr strafrechtlich gegen ihre Peiniger vorgehen, haben sie nun drei Jahre länger Zeit, weil die Frist drei Jahre später einsetzt.  
Was die Bundesregierung nicht sagt: Die Fachpolitiker des Bundestags-Rechtsausschusses haben das Gesetz nicht, wie von Betroffenen-Verbänden gefordert, grundlegend reformiert, sondern einen Minimalkompromiss ausgehandelt. Experten, und auch der Missbrauchsbeauftrage der Bundesregierung, halten das Gesetz für unzureichend. Die Verjährung setzt nun ganze drei Jahre später ein. Um das auszuhandeln, haben die Politiker 20 Monate gebraucht.
Der Grund: Eine Verjährung ab dem 30. Lebensjahr des Opfers hat die FDP verhindert. Nach deren Votum richtete sich auch der große Koalitionspartner CDU und stimmte der Schmalspurlösung zu.
◾Einschätzung des Trauma-Fachberaters Thomas Schlingmann: "Das ist zutiefst enttäuschend. Denn es drückt aus, dass das eigentliche Problem noch nicht verstanden wurde. Die meisten Männer, die hier in die Beratung gehen, sind 40 oder älter. Da nützt die jetzige Veränderung überhaupt nichts." Die Frage 'mache ich eine Anzeige oder nicht', tauche oft erst nach Jahrzehnten auf, so Thomas Schlingmann. Mit dem neuen Gesetz werde diese Möglichkeit genommen. Ohne öffentlichen Druck werde das Gesetz so bestehen bleiben und nicht wieder auf die Tagesordnung kommen, befürchtet der Trauma-Fachberater.
In welchen Bereichen genau wird zu wenig getan?
Sebastian Bellwinkel kommentiert die Kernpunkte mangelnder Opferhilfe:
1. Kinderschutzgesetz - Laut Koalitionsvertrag soll das von Kritikern als unzureichend titulierte Gesetz "weiterentwickelt" werden. Ein zentraler Kritikpunkt war, dass es keine staatlich finanzierten und dennoch unabhängigen Anlaufstellen für Kinder und Jugendliche gibt, die in ihrem sozialen Umfeld, also auch in der Familie, sexualisierte Gewalt erleiden mussten beziehungsweise müssen. Würde das Familienministerium hierfür - wie gefordert - ein flächendeckendes "Beschwerdemanagement" einrichten, würde das am Ende sehr viel Geld kosten.
2. Hilfsfonds - Der Hilfsfonds ist das Sinnbild für die völlig verlogene Haltung der Politik, wenn es um missbrauchte Kinder und Jugendliche geht. Er suggeriert den Betroffenen: Wir helfen euch und kümmern uns. Nur, organisieren und bezahlen müsst ihr das weitestgehend selbst. So zynisch lässt sich das bisherige Ergebnis dieses Fonds zusammenfassen. Laut Koalitionsvertrag soll der Hilfsfonds nun für Betroffene aus dem familiären Bereich (also wie bisher) und "institutionellen Bereich weiterentwickelt" (neu) werden. Mit dem institutionellen Bereich sind Beispiel Sportvereine und Kirchen gemeint. Das ist eine alte Forderung vieler Betroffenen-Vertreter.
Es ist aber eine organisatorische Herkulesaufgabe. Für die Umsetzung sollte laut Koalitionsvertrag "bis Mitte des Jahres 2014" eine "Arbeitsgruppe" eingerichtet werden, die dafür Vorschläge entwickeln soll. Diese soll nach meinen Informationen im Juli zum ersten Mal tagen. Teilnehmen sollen Vertreter von Bund und Ländern, der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig und Betroffenen-Vertreter. Ich bleibe, was die Erwartungen angeht, skeptisch. Der Runde Tisch hat ja auch viele Vorschläge erarbeitet. Aber wenn sich an der Umsetzung kaum einer beteiligt beziehungsweise keine finanziellen Mittel zur Verfügung stellt, dann bleibt es nur ein Spiel auf Zeit.
Koalitionsvertrag "bis Mitte des Jahres 2014" eine "Arbeitsgruppe" eingerichtet werden, die dafür Vorschläge entwickeln soll. Diese soll nach meinen Informationen im Juli zum ersten Mal tagen. Teilnehmen sollen Vertreter von Bund und Ländern, der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig und Betroffenen-Vertreter. Ich bleibe, was die Erwartungen angeht, skeptisch. Der Runde Tisch hat ja auch viele Vorschläge erarbeitet. Aber wenn sich an der Umsetzung kaum einer beteiligt beziehungsweise keine finanziellen Mittel zur Verfügung stellt, dann bleibt es nur ein Spiel auf Zeit.
3. Verjährungsfristen - Als Opfer eines sexuellen Missbrauchs hat man per Gesetz bis zu 20 Jahre Zeit, den beziehungsweise die Täter/in anzuzeigen. Die letzte Bundesregierung hatte in einer Gesetzesnovelle verabschiedet, dass diese strafrechtliche Verjährungsfrist erst mit dem 21. Lebensjahr des Opfers beginnt und nicht - wie bislang - mit dessen 18. Lebensjahr. Zahlreiche Experten haben diese Mini-Erhöhung als völlig unzureichend kritisiert, denn häufig können Menschen, die in ihrer Kindheit sexualisierte Gewalt erlitten haben, erst mit etwa 40 oder 50 Jahren überhaupt über das Erlittene sprechen - von einer Strafanzeige ganz zu schweigen.
Wie ich in meinem jüngsten Film gezeigt habe, wollte die CDU ja angeblich den Beginn der Verjährung mit dem 30. Lebensjahr des Opfers beginnen lassen. Das hat der damalige Koalitionspartner, die FDP, aber blockiert, weshalb der untaugliche Kompromiss zustande gekommen und allen Ernstes in Gesetzesform gegossen worden ist. Der neue Bundesjustizminister, Heiko Maas von der SPD, will das nun ändern. Er hat bereits einen Gesetzesentwurf in die sogenannte Ressortabstimmung gegeben. Maas will die Verjährungsfrist tatsächlich erst mit dem 30. Lebensjahr des/der Betroffenen beginnen lassen. Immerhin. Aus persönlichen Gesprächen mit Betroffenen weiß ich, dass ihnen allein die Option, den Täter strafrechtlich verfolgen zu lassen, das lähmende Gefühl der oft Jahrzehnte andauernden Ohnmacht nehmen könnte.
Wie ich in meinem jüngsten Film gezeigt habe, wollte die CDU ja angeblich den Beginn der Verjährung mit dem 30. Lebensjahr des Opfers beginnen lassen. Das hat der damalige Koalitionspartner, die FDP, aber blockiert, weshalb der untaugliche Kompromiss zustande gekommen und allen Ernstes in Gesetzesform gegossen worden ist. Der neue Bundesjustizminister, Heiko Maas von der SPD, will das nun ändern. Er hat bereits einen Gesetzesentwurf in die sogenannte Ressortabstimmung gegeben. Maas will die Verjährungsfrist tatsächlich erst mit dem 30. Lebensjahr des/der Betroffenen beginnen lassen. Immerhin. Aus persönlichen Gesprächen mit Betroffenen weiß ich, dass ihnen allein die Option, den Täter strafrechtlich verfolgen zu lassen, das lähmende Gefühl der oft Jahrzehnte andauernden Ohnmacht nehmen könnte.
Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, hat aber darauf hingewiesen, dass die Betroffenen gleichzeitig auch einen Rechtsanspruch auf eine begleitende Beratung haben müssen, wenn sie tatsächlich ein Strafverfahren gegen ihren Peiniger beginnen wollen. Im Strafverfahren gelten ja die Regeln des Strafrechts. Und nicht selten müssen Täter aus Mangel an Beweisen freigesprochen werden. Das kann ohne eine rechtliche oder auch therapeutische Beratung fatale Folgen für die Betroffenen haben: etwa eine sogenannte Retraumatisierung.